Line Wasner hat an der Bauhaus Universität Weimar und der Glasgow School of Art
Freie Kunst studiert. Seit 2010 arbeitet sie auch als Theatemalerin.
info deutsch
Mit den Mitteln der Zeichnung und der Malerei lässt Line Wasner Geschichten
aus den vorgefundenen und erdichteten Spuren in Räumen entstehen.
Sie konstruiert sie in einer Art Gesprächsform zwischen den Bedingungen des Ortes,
dem dort vorgefundenen Material und mitgebrachten Komponenten.
LW pflegt ihre Eingriffe gewissermassen in den Ort ein, so dass sie als
Hinterlassenschaften gelesen werden können.
Malerei versteht sie dabei als Möglichkeit bestehende Zustände achtsam zu
ergänzen. Es ist ein Realisieren von Vorstellungen davon, was auch gut gewesen
sein könnte. Sie sieht sich in diesem Sinne als Gestalterin, die sich der Mittel
der Malerei bedient.
Die erfundenen Hinterlassenschaften verweisen auf verschiedene Autoren, die
zum Zeitpunkt der Betrachtung des Raumes offenbar woanders sein müssen.
Fiktive Personen, die nie sichtbar werden, deren Motive nie ganz geklärt werden
können, könnten genauso gut die Urheber der Arbeit sein und verschaffen sich so
Platz im realen Raum.
Die Entdeckung, dass eine scheinbare Ordnung durch mögliche Realität ergänzt
werden kann, inklusive anderer möglicher Realitäten der Urheberschaft, ist
Motor ihrer Handlungen.
info english
Line Wasner is a visual artist living in Berlin.
By using the means of painting and drawing she features the creation
of stories made from found and invented leftovers in rooms.
In a conversational manner between the conditions of the place she works in,
material she finds there and a collection of work that she brings along,
she constructs the story.
The used material points towards beings, that are always already gone,
when she arrives. In the present of the spectators they have left behind
references to their past.
Considering that they have always just left, hints at their existence in the future.
In this context, any reference to the future remains a matter of speculation,
and reality itself becomes a matter of negotiation.
Einzelausstellungen:
2015/Liebe und Aneignung, Raum für drastische Maßnahmen, Berlin
2015/Lieber Zeit, liebe Raum, Alter Schlachthof Sigmaringen
2015/ Ächz!, Oel-Früh Cabinet, Hamburg
2011/Verrückte Welt, meine Nase juckt immer noch., Galerie Oel-Früh, Hamburg
2004/ Verkehrslage, Galerie Zero, Berlin
Gruppenausstellungen:
2021/20 Jahre Kolonie Wedding, Kulturpalast Wedding International, Berlin
Leiharbeit innerhalb der Show von Henrik Jacob im Kunstverein Viernheim
2020/ ALLES III
Studio im Hochhaus, Bezirksamt Lichtenberg, Berlin
2019/ HELTER SKELTER Festival, Kulturpalast Wedding International, Berlin
ALLES II, Studio im Hochhaus, Bezirksamt Lichtenberg, Berlin
Chrystal Ball Supermarché, Galerie Chrystal Ball Berlin
2018/ Outside the Black Hole, Hilbert Raum, Berlin
2017 *A Juried Show Of The Status Quo Group Show
Kulturpalast Wedding International, Berlin
2016/Sammlung Breker, Studio 45, Hamburg
2015/Oel - Früh Residenz / Haus Seepferdchen
Bullerdeich 7 (Wiese am Park), Hamburg
zeitgenössische Positionen im Salon des Haus Seepferdchen mit:
Jan Köchermann, Xenia Lesniewski, Anna Nero, Aleen Solari, Line Wasner
2014/Zeichnungen/GalerieRaum Anne Mundo, Berlin
copyleft #1/ COPYRIGHTberlin Ute Lindner + Patrick Huber /temporarily at
Markgrafenstr. 58/ Berlin
2013/art books wanted/Edition Lidu/B1 Centre for contemporary design, Prague
2012/ Weihnachtsausstellung/Galerie Vero Linzmeier, Berlin
Last Edition/Galerie Oel-Früh, Hamburg
2011/ Weihnachten mit den Beatles/Galerie Chrystal Ball, Berlin
Salto gehockt, Temporäre Kunsthalle des vdek, Berlin
Zeichnungen/Galerie Vero Linzmeier, Berlin
2010/zu Hause Kunst, kuratiert von Kerstin Wagener, Berlin
Triangle Arts Workshop/Open Studios, Brooklyn, New York City
5. Geburtstag, Galerie Linda, Hamburg
Zine Showcase - Montgomerys Cafe, Glasgow
2009/Blätter als Mieter (with Maria Zillich), Max - Beer - Str. 6, Berlin
generations - twenty german years, Kunsthalle Brennabor, Brandenburg
Formation 65 x 16 x 6,5 Meter (curated by M.V.Stein), Uferstudios, Berlin
Automatencasino, Ostrale Salon, Dresden
Kook Gala, Sophiensäle, Berlin
2008/ Anonyme Zeichner, Künstlerhaus Bethanien, Berlin
.HBC, Haus Ungarn, Berlin
Emmi‘s room at the Ostrale, Dresden
Wölfe, opening of the Uferhallen, Berlin
Höhlenmenschen, (with Timo Pitkämö), Galerie Linda, Hamburg
2006/ Toll Toll Toll! (with Anne Dettmer), Galerie Kurt im Hirsch, Berlin
Egoshooting, stage design for a theatre play directed by Berit Schulz.
2005/ 2. Geburtstag, Galerie ZERO, Berlin
Labyrinthe, Kunstverein Eisenturm, Mainz
2004/ Landpartie, Kulturbrauerei, Rothenburg o.d.T.
Gerüste, Kunstverein Schwerte (with K. Wenzel and C. Zwiener), Schwerte
D.O.G., compact_space, Berlin
2003/ Beauty & Importance (with Timo Pitkämö),
Galerie Kurt im Hirsch, Berlin
2002/ Fernsucht, Schönhauser Allee 167c, Berlin
2001/ Turmbau in der Wohnung, (Diplomarbeit), Rainer-Maria-Rilke-Str.1/EG, Weimar
Über emmis room
In dem fortlaufenden Projekt emmis room beschäftige ich mich,
unterstützt von einer fiktiven Person namens Emmi, mit der willkürlichen
Kombination von Hinterlassenschaften, wie man sie in entmieteten
Wohnungen vorfindet.
Emmi ergänzt das Gefundene, fügt Dinge hinzu die ihr gefallen, kopiert Lieblingsstellen
und streicht anderes durch. Sie hinterlässt neue Spuren und verschwindet.
Mit Emmis Hilfe und beeinflusst von dem Ort an dem ich arbeite erfinde ich
Stimmungen, Interieurs, Handlungen und ihre Spuren für meine Bilder. Es entstehen
eine Art Stillleben, deren Arrangements nicht nur von mir kommen: Emmis Logik hat
ihren Teil daran.
Die Figur Emmi steht für die Abwesenheit eines Individuums, deren Eigenheiten und
Lebensumstände aus den Spuren ihres Handelns in diesen Räumen gelesen werden
müssen. Emmi ist den Überbleibseln und Abfallprodukten unseres Kulturkreises
ausgesetzt und stellt aus der Kombination dieser „Reste“ eigene Zusammenhänge her.
Emmi ist immer schon gegangen, wenn ich eintreffe.
Die Figur befreit mich von der Tradition der Dinge und stellt Sinnzusammenhänge her,
deren Ursprung ich nicht immer ableiten kann. So entsteht eine Beobachtung, deren
Grund ich nicht unbedingt kennen muss und die eben durch diese Fremdheit genau
wird.
Zuletzt habe ich mich verstärkt darauf konzentriert, diesen Überlagerungen von
Gefundenem und Erfundenem, von Emmi und mir in tatsächlichen Räumen
nachzugehen und einen installativen Charakter der Idee zu fördern. Sowohl auf dem
Kunstfestival Ostrale in Dresden als auch während eines Workshops
in New York bin ich auf die vorhandenen Spuren der ehemaligen Büroräume
eingegangen und habe auf sie reagiert. Emmi wird dann zur Beraterin. Ich durchforste
den Raum und schreibe mich dabei in ihn ein. Diese Methode ist charakteristisch für
meine Arbeit geworden. LW, 2010
english version
about emmis room
My ongoing project „Emmi's room“ is about the arbitrary combination of leftovers the
way you can find them in de-rented flats. The fictive Emmi helps me here. She
completes what is found, adds things that she likes, copies favourite spots and erases
others. She leaves new traces and disappears.
With Emmis help und influenced by the place I work in, I invent atmospheres,
interieurs, actions and their traces. The results can be seen as still lives, even though
its arrangements aren't only invented by me: Emmi's logic also played its part.
The figure Emmi stands for the absence of an individual, whose traits and living
conditions can be read from the traces of her actions. Emmi is ingeniously handed over
to the oddments and garbage of our cultural field and is therefor forced to build her
own coherences out of these combinations of leftovers.
I'm pursuing these overlaps of findings and inventions on a wider scale at the moment.
I'm planning to transfer the „Emmi-World“ into the room itself and in so doing support
an installative character of the idea.
aus dem Pressetext zur Ausstellung
Verrückte Welt, meine Nase juckt immer noch.
In der Galerie Oel-Früh, 2010 von Anna Carla Brokof
In dem seit 2006 fortlaufenden Projekt emmis room beschäftigt sich LW mit den
willkürlichen Hinterlassenschaften wie man sie in entmieteten Wohnungen vorfindet.
Unterstützt von der fiktiven Figur Emmi ergänzt sie das vor Ort gefundene, fügt Dinge
hinzu, kopiert Lieblingsstellen und streicht anderes durch.
Die Idee von der immer kurz voher aufgebrochenen Emmi bestimmt auch immer die
Arbeit vor Ort. Daraus ergeben sich Stimmungen, Interieurs, Handlungen bzw. deren
Spuren für die Bilder und Installationen der Künstlerin. Emmis Abwesenheit und ihr
dadurch immerwährendes Fremdbleiben garantieren einen klaren Blick. Sie befreit von
der Tradition der Dinge, weil sie fremde Motive hat und stellt Sinnzusammenhänge her,
deren Ursprung Vermutungen bleiben.
Zu Gast in der Galerie Oel Früh wird LW diese Arbeitweise auf die durch ihre Lage so
besonderen Räume der Galerie anwenden. Aus einer Kombination von mitgebrachten
Arbeiten und Einschreibungen, die während eines vorübergehendem Einzugs entstehen,
werden Ort und Arbeit zueinandergebracht.
Über die Bildserie emmi's room
von Korvin Reich
2010
Allerletzte Spuren
oder: Was von einem Leben übrig bleibt
Eine Wohnung übergeben. Besenrein. Der Umzug hat bereits stattgefunden, die Räume
sind leer. So gut wie leer. Was sich in diesem Zustand der Wohnungs-Auf-Lösung noch
anfindet, ist hartnäckig: Reißzwecken, Staubnester, Kleingeld, mumifizierte
Fliegenkörper.
Zeugen eines längst über-lebten Daseinsabschnitts, wertlos, sich nun demaskierend als
Müll und Schmutz, überall anders, überall gleich. Es scheint ebensoviel Mühe zu kosten
wie der Umzug selbst, auch die allerletzten Spuren zu beseitigen.
Die Bilder Line Wasners vom Zyklus „Emmi's Room“ zeugen von diesen hartnäckigen
Spuren eines Lebens oder Lebensabschnitts, Zeichen, die sich überall ähneln, Chiffren
sind, aber dennoch, verborgen und gleichzeitig unverblümt, auf Geschichten verweisen.
Die Chiffren auf den Bildern zeigen diesen Charakter des Zeichenhaften und
Geheimnisvollen, des immer Unfertigen, Flüchtigen. Der Raum, nachdem die
Gegenstände fort sind, verwe(a)ist noch immer auf deren verlorene Gegenwart und
befindet sich somit im Bereich zwischen gegenständlich und raumhaft-abstrakt.
Die Dinge, die sich noch finden, irgendwann unter einen Schrank gefallen und
vergessen, sind nun zweck-los und gleichsam ins Form-lose übergehend.
Auch Wände sind solch stumme Lebenszeugen: Risse, die alte Tapeten zum Vorschein
bringen, helle Bilderschatten, ein alter Werbekalender, Aufkleber, Flecken. Nach der
Maueröffnung gab es im Ostteil von Berlin viele fast fluchtartig verlassene Altbau
Wohnungen, in deren Wände sich nicht nur ein unbekanntes Leben, sondern auch eine
nun nicht mehr existente Staatsform eingegraben hat.
Line Wasners Bilder erzeugen den gleichen Eindruck unkenntlich gewordener
Individualität, von Fremdartigkeit, von Verlassenheit. Sie erwecken die Illusion, beredt
von vergangenen Lebensgeschichten zu erzählen, doch dieser Impuls bleibt irgendwo
im leeren Raum und läuft sprichwörtlich ins Leere.
Die Arbeiten zu „Emmi's Room“ sind Zeugen, die keine mehr sind: Die Vergänglichkeit
ist nun einmal unerbittlich.
Doch hin und wieder lässt sich vermeintlich eine deutlichere Spur der Leere abtrotzen
und man beginnt, Geschichten und Träume zu suchen, Zusammenhänge, sich
offenbarende Geheimnisse.
Und durch die Hintertür hinein spaziert auf einmal Emmi, als wäre sie nie fort gewesen,
unmittelbar in einer Existenz, die doch machtlos ist gegen den unaufhaltsamen Strom
der Zeit.
MONOPOL
Magazin für Kunst und Leben
Nr. 8/2009 August
Watchlist: Line Wasner
von Daniel Schreiber
An römische Hauswände erinnern sie, die Bilder von Line Wasner, mit ihren vielfachen
Übermalungen und der fast zufällig wirkenden Komposition. Man muss an die
Bildsprache des abstrakten Expressionismus denken, an Cy Twomblys farbberauschte
Kritzeleien oder Willem de Koonings Gestenreichtum: Von ihnen hat die 32-jährige
Berlinerin, die an der Weimarer Bauhaus-Universität und an der Glasgow School of Art
Kunst studiert hat, ihre Maltechniken inspirieren lassen.
Anfangs schuf Wasner Porträtzeichnungen – unter anderem von Angela Merkel, als
diese Kanzlerin wurde. Die Linien dieser Arbeiten wirken so, als wollten sie mit aller
Macht ihre beschreibende Funktion sprengen. Sowohl die Bewegung zur Malerei als
auch die Entwicklung zur Abstraktion sind den Werken hart abgerungen. Minutiös kann
man nachverfolgen, wie die Künstlerin versuchte, immer mehr zu reduzieren, so lange,
bis die Bilder nicht trotzdem, sondern wieder funktionierten.
Am deutlichsten tritt Wasners malerische Souveränität in „Emmi's room“ hervor, ihrem
Zyklus aus den vergangenen beiden Jahren. Emmi ist eine imaginäre Figur, wie die
Künstlerin sagt, ein hilfreiches Konstrukt. Die Leinwände stellen die Spuren ihres
vergangenen Lebens dar. Ein kleiner Kopf verbirgt sich hinter leuchtenden Farbflächen,
die wie abgerissene Tapetenfetzen wirken. Minimale, fast kindliche Linien erstrecken
sich in die vielen Abstufungen des Weiß des Hintergrunds. Prekär und feminin wirkt das
und verneigt sich vor den klassischen Vorbildern, ist aber zugleich weit von ihnen
entfernt.
Liebe Freunde der Kunst,
Lieber Zeit, liebe Raum – – –
Text zur Eröffnung der Ausstellung "Lieber Zeit, liebe Raum" im Alten
Schlachthof Sigmaringen / August 2015
von Maren Gebhardt
vermutlich haben Sie sich gefragt: müsste es nicht heißen: liebe Zeit, lieber Raum?
Schön, dass Sie trotzdem gekommen sind.
Lassen wir die grammatikalische Verdrehung im Titel erstmal beiseite, so sehen wir,
dass sich Line Wasner, die diesjährige Gastkünstlerin des Werkaufenthalts, nichts
Geringeres als die Grundparameter unseres Daseins vorgenommen hat: Zeit und
Raum.
Zeit und Raum sind ihr Material und beides beherrscht sie meisterhaft. Im Vertrauen
darauf, dass ihre Materialien ja vorhanden sind, folgte sie dem Ruf in den Schlachthof
und dem Prinzip Werkaufenthalt entsprechend vorbereitet: sie kam mit nichts im
Gepäck, um sich unvoreingenommen voll und ganz auf die örtlichen Gegebenheiten
einzulassen.
Allerdings offenbart ein erster Blick in die Schlachthalle: das ist schon eine recht
seltsame Veranstaltung geworden hier. Fleckige Tücher, abgehängte Maschinen,
notdürftig angebrachte Gemälde, ein abgelegter Marktschirm. Dafür schmückende
Windhosen. Es macht den Anschein, dass sich hier in den zurückliegenden sechs
Wochen Aktivität eher zurückgezogen hat und nicht Line Wasner, sondern die Zeit hier
gearbeitet hat. Aber Zeit und Raum sind eben tatsächlich Material. Bereits in einer
früheren Serie von Bildern –“Emmi‘s Room“ – malte sie auf Leinwand Zimmerwände
der fiktiven Person Emmi, an denen in verschiedenen Schichten von Spuren der
fiktiven Vormieter ablesbar waren. Mittlerweile gehört es zu ihrer bevorzugten
Arbeitsweise in tatsächlich vorhandenen Räumen zu arbeiten. Sie tritt mit ihnen in
einen Dialog, reagiert auf vorhandene Hinterlassenschaften und bettet fiktive
unmerklich ein.
Aus Vor- und Rückverweisen knüpft sie ein Zeitgeflecht, das hier im Schlachthof ein
beachtliches Maß an Komplexität erreicht. Die Zeitebenen sind zwar stellenweise auch
als physische Schicht aufgetragen, aber darüber hinaus arbeitet sie formal wie
inhaltlich mit subtilen Zeitlügen.
Ich möchte dies exemplarisch an zwei Objekten erläutern:
Mit den Hussen über den Drehkurbeln blendet sie die Funktionalität und frühere
Funktion der Schlachthalle aus. Zugleich erhalten die solcherart präparierten
Maschinenteile die Form eines Zeitmessers, die allerdings nicht gleich getaktet sind –
Sie ahnen schon …
Aber damit nicht genug. Dort hinten hängt ein kleines unscheinbares Ölgemälde. In
seiner Farbigkeit und mit seinem Motiv knüpft es an das Genre der Interieur-Malerei
an. Abgesehen davon, dass man beim Gedanken an Interieur-Malerei eher
Wohnräume oder höchstenfalls Ateliersituationen vor dem inneren Auge vorbeiziehen
lässt, weniger frühe industrielle Arrangements, ist es darüberhinaus irritierend, dass
besagte Hussen mit im Bild festgehalten sind. Wir befinden uns aber in genau diesem
abgebildeten Raum, wissend, dass Line Wasner diese Arbeit hier in den letzten sechs
Wochen angefertigt hat. Wir als Betrachter sind somit selbst als Bezugspunkt in das
Zeitgeflecht eingebunden.
Um mit verschiedenen Zeitebenen und Spuren zu arbeiten, die von fiktiven oder realen
Personen hinterlassen worden sind, hat Line Wasner einen Weg gesucht Zeit nicht
linear denken zu müssen. Denn jede Spur eröffnet einen neuen, parallelen Weg zu
einer Person, die inzwischen längst woanders ist. Bei dieser Suche danach, diese
verschiedenen Rollen zu „managen“, ist sie auf den Begriff der gebrochenen
Zeitlichkeit gestoßen. Der Begriff ist dem Buch „Gespenster meines Lebens“ des
britischen Kulturwissenschaftlers Mark Fisher entlehnt, der wiederum auf Jacques
Derridas Buch „Marx‘ Gespenster“ verweist. Ich darf Ihnen mit Mark Fisher eine kleine
Einführung in die Gespensterkunde geben. Es heißt bei Fisher (Zitat): „Die Gestalt des
Gespensts ist daher insofern bedeutsam, als ein Gespenst nicht vollkommen präsent
sein kann. Es hat kein Sein an sich, sondern markiert die Beziehung zu einem nicht-
mehr oder noch-nicht.“
Das Bild des Gespensts erlaubt es Person und Präsenz zu entkoppeln und auf diese
Weise auch den liearen Zeitgedanken aufzubrechen.
Wir als Betrachter sind zwar mit der physischen Präsenz der Spuren konfrontiert, aber
genau die Ungewissheit über das „nicht-mehr“ oder „noch-nicht“ dahinter, ob echt oder
Fake oder gar Gespenst, verunsichert uns.
Der Verunsicherung Schützenhilfe leistet leider auch die formale Umsetzung.
Meterweise ver- und bearbeitet Line Wasner Leinwandstoff, aber nicht um als
Flachware an der Wand gleich zum Verkauf zu stehen, sondern um als
dreidimensionale Objekte im Raum Fragen aufzuwerfen. Warum Leinwandobjekt?
Warum Streifen? Sind die echt? Diese Frage immerhin lässt sich bei genauem Hinsehen
klären: echt. Sie sind im wahrsten Sinne materialisierte lineare Zeit. Warum aber
dieser Aufwand? Nichts wäre einfacher gewesen hier am Rande der Alb, der einstigen
Hochburg der Textilwirtschaft, den passenden Stoff zu erwerben und sich diese Mühe
zu sparen. In unserer Zeit, in der wir durch technische Neuerungen eigentlich immer
mehr Zeit gewinnen (gewinnen wollen) und trotzdem immer erschöpfter sind,
manifestiert sich in den handgemalten Streifen ein sich Stemmen gegen die verdichtete
Zeit im echten Leben. Der körperliche Einsatz ist den Streifen anzusehen, gerade so,
wie das Streifentuch am Boden sorgfältig arrangiert ist und keine Stofffalte dem Zufall
überlassen ist. Die Streifen und die stellenweise durch Stofffalten zueinander
verschobenen Streifen, lassen an optisch gewollte Effekte einer Bridget Riley denken.
Ein Hinweis darauf, dass sich Line Wasner zeitweise als Theatermalerin verdingt, lässt
vermuten, dass sie sich mit der Fernwirkung von Form, Formaten und Farben
auskennt. Doch die im Gegensatz zu Riley jede für sich lebendige einzelne
Streifenbahn, das malerische Moment sowie die Lust am überdimensionalen Format
jenseits der DIN-Formate führt im Zusammenhang mit der Theatermalerei zu einem
anderem Schlüssel, der Kulisse. Die Theaterkulisse ist reine Vortäuschung, vor der die
Schauspieler auf der Bühne präsent sind, darauf können Sie sich aber in diesem
Etablissement nicht verlassen, zumal Sie selbst Akteur sind. Es bleibt Ihnen nur genau
hinzuschauen und ab und an die Unsicherheit auszuhalten, ob nicht unter der ganzen
Leinwand weitere Gespenster verborgen sind.
Lieber Zeit, liebe Raum – bis in den Titel der Ausstellung verfolgt Line Wasner ihre
Arbeitsweise. Mit dieser freundschaftlichen Anrede ihrer beiden ständigen Gefährten
zitiert sie das in die Jahre gekommene Kommunikationsmedium Brief als ob die beiden
abwesend wären – Gespenster?! Die grammatikalische Verdrehung wirkt dabei wie ein
handgemalter Streifen: man muss zweimal hinschauen und stolpert trotzdem über die
Absicht. Zugleich beginnt sie mit der Anrede eine Erzählung, die sie hier in der Halle
mit bildkünstlerischen Mitteln fortsetzt. Das Vergnügen dieser Lektüre überlässt sie und
überlasse nun auch ich Ihnen.
aus dem Pressetext zur Ausstellung Liebe und Aneignung
im Raum für drastische Maßnahmen Berlin 2015
Den einzigen Zugang zur Wirklichkeit des Planeten Mars bietet derzeit
die Weltraumfotografie. Apparate sind darauf programmiert,
Bilder in möglichst viele Richtungen aufzunehmen.
So entfällt die menschliche Hand am Auslöser mitsamt
ihren subjektiven Ideen. Das Naturstudium des Mars
besteht für den Maler in der Betrachtung von unter solchen
Bedingungen gemachten Bildern.
Hängt die Vorstellung von der Wirklichkeit von der Reihenfolge
ab, in der Medien ihr begegnen? Welche Rolle spielen körperliche
Erfahrungen beim Abbilden?
Diese Ausgangssituation ist
Anlaß für Line Wasner, den Begriff der Aneignung auf die Malerei anzuwenden.
In diesem Transformationsprozess wird das Verhältnis dieser Abbildungen und deren
Aneignung untersucht.
Zur künstlerischen Arbeit von Line Wasner
Nachdem ich öffentliche Ausstellungen von Line Wasner
besucht hatte, bekam ich Neugier, ihr Studio und
Arbeitsweise bzw. Spielweise zu erleben. Ihre Spielwiese...
Das gefi el mir... Als ob das Gegensatzpaar aus Real und
Fiktiv durch ihre künstlerischen Eingriffe seine wacklige
Konstruktion offenlegt. Womöglich liegt darin die unleugbare
Poesie; eine gleichzeitige feine, ruhige Stille, mit grosser
Konzentration, die vom Betrachter im Raum vor Ort erfühlt
werden kann. Ein Raum, frei von allen gesellschaftlichen,
kunstszene- und marktorientierten Normen und
Erwartungen, eher wie in einer seltsamen, feinsinnigen
Traumlandschaft. Line Wasner stellt ihr eigenes Universum
her,..., ihren eigenen Planeten der Kunst,...so könnte es auch
auf dem Mars sein ..
Peter Sempel
im Januar 2016
www.blacksunfl ower.com
Peter Sempel (* 1954 in Hamburg) ist ein deutscher Filmregisseur,
Fotograf und Drehbuchautor.