Liebe Freunde der Kunst,
Lieber Zeit, liebe Raum – – –
Text zur Eröffnung der Ausstellung "Lieber Zeit, liebe Raum" im Alten Schlachthof
Sigmaringen / August 2015
von Maren Gebhardt
vermutlich haben Sie sich gefragt: müsste es nicht heißen: liebe Zeit, lieber Raum?
Schön, dass Sie trotzdem gekommen sind.
Lassen wir die grammatikalische Verdrehung im Titel erstmal beiseite, so sehen wir,
dass sich Line Wasner, die diesjährige Gastkünstlerin des Werkaufenthalts, nichts
Geringeres als die Grundparameter unseres Daseins vorgenommen hat: Zeit und
Raum.
Zeit und Raum sind ihr Material und beides beherrscht sie meisterhaft. Im Vertrauen
darauf, dass ihre Materialien ja vorhanden sind, folgte sie dem Ruf in den Schlachthof
und dem Prinzip Werkaufenthalt entsprechend vorbereitet: sie kam mit nichts im
Gepäck, um sich unvoreingenommen voll und ganz auf die örtlichen Gegebenheiten
einzulassen.
Allerdings offenbart ein erster Blick in die Schlachthalle: das ist schon eine recht
seltsame Veranstaltung geworden hier. Fleckige Tücher, abgehängte Maschinen,
notdürftig angebrachte Gemälde, ein abgelegter Marktschirm. Dafür schmückende
Windhosen. Es macht den Anschein, dass sich hier in den zurückliegenden sechs
Wochen Aktivität eher zurückgezogen hat und nicht Line Wasner, sondern die Zeit hier
gearbeitet hat. Aber Zeit und Raum sind eben tatsächlich Material. Bereits in einer
früheren Serie von Bildern –“Emmi‘s Room“ – malte sie auf Leinwand Zimmerwände
der fiktiven Person Emmi, an denen in verschiedenen Schichten von Spuren der
fiktiven Vormieter ablesbar waren. Mittlerweile gehört es zu ihrer bevorzugten
Arbeitsweise in tatsächlich vorhandenen Räumen zu arbeiten. Sie tritt mit ihnen in
einen Dialog, reagiert auf vorhandene Hinterlassenschaften und bettet fiktive
unmerklich ein.
Aus Vor- und Rückverweisen knüpft sie ein Zeitgeflecht, das hier im Schlachthof ein
beachtliches Maß an Komplexität erreicht. Die Zeitebenen sind zwar stellenweise auch
als physische Schicht aufgetragen, aber darüber hinaus arbeitet sie formal wie
inhaltlich mit subtilen Zeitlügen.
Ich möchte dies exemplarisch an zwei Objekten erläutern:
Mit den Hussen über den Drehkurbeln blendet sie die Funktionalität und frühere
Funktion der Schlachthalle aus. Zugleich erhalten die solcherart präparierten
Maschinenteile die Form eines Zeitmessers, die allerdings nicht gleich getaktet sind –
Sie ahnen schon …
Aber damit nicht genug. Dort hinten hängt ein kleines unscheinbares Ölgemälde. In
seiner Farbigkeit und mit seinem Motiv knüpft es an das Genre der Interieur-Malerei
an. Abgesehen davon, dass man beim Gedanken an Interieur-Malerei eher
Wohnräume oder höchstenfalls Ateliersituationen vor dem inneren Auge vorbeiziehen
lässt, weniger frühe industrielle Arrangements, ist es darüberhinaus irritierend, dass
besagte Hussen mit im Bild festgehalten sind. Wir befinden uns aber in genau diesem
abgebildeten Raum, wissend, dass Line Wasner diese Arbeit hier in den letzten sechs
Wochen angefertigt hat. Wir als Betrachter sind somit selbst als Bezugspunkt in das
Zeitgeflecht eingebunden.
Um mit verschiedenen Zeitebenen und Spuren zu arbeiten, die von fiktiven oder realen
Personen hinterlassen worden sind, hat Line Wasner einen Weg gesucht Zeit nicht
linear denken zu müssen. Denn jede Spur eröffnet einen neuen, parallelen Weg zu
einer Person, die inzwischen längst woanders ist. Bei dieser Suche danach, diese
verschiedenen Rollen zu „managen“, ist sie auf den Begriff der gebrochenen
Zeitlichkeit gestoßen. Der Begriff ist dem Buch „Gespenster meines Lebens“ des
britischen Kulturwissenschaftlers Mark Fisher entlehnt, der wiederum auf Jacques
Derridas Buch „Marx‘ Gespenster“ verweist. Ich darf Ihnen mit Mark Fisher eine kleine
Einführung in die Gespensterkunde geben. Es heißt bei Fisher (Zitat): „Die Gestalt des
Gespensts ist daher insofern bedeutsam, als ein Gespenst nicht vollkommen präsent
sein kann. Es hat kein Sein an sich, sondern markiert die Beziehung zu einem nicht-
mehr oder noch-nicht.“
Das Bild des Gespensts erlaubt es Person und Präsenz zu entkoppeln und auf diese
Weise auch den liearen Zeitgedanken aufzubrechen.
Wir als Betrachter sind zwar mit der physischen Präsenz der Spuren konfrontiert, aber
genau die Ungewissheit über das „nicht-mehr“ oder „noch-nicht“ dahinter, ob echt oder
Fake oder gar Gespenst, verunsichert uns.
Der Verunsicherung Schützenhilfe leistet leider auch die formale Umsetzung.
Meterweise ver- und bearbeitet Line Wasner Leinwandstoff, aber nicht um als
Flachware an der Wand gleich zum Verkauf zu stehen, sondern um als
dreidimensionale Objekte im Raum Fragen aufzuwerfen. Warum Leinwandobjekt?
Warum Streifen? Sind die echt? Diese Frage immerhin lässt sich bei genauem Hinsehen
klären: echt. Sie sind im wahrsten Sinne materialisierte lineare Zeit. Warum aber
dieser Aufwand? Nichts wäre einfacher gewesen hier am Rande der Alb, der einstigen
Hochburg der Textilwirtschaft, den passenden Stoff zu erwerben und sich diese Mühe
zu sparen. In unserer Zeit, in der wir durch technische Neuerungen eigentlich immer
mehr Zeit gewinnen (gewinnen wollen) und trotzdem immer erschöpfter sind,
manifestiert sich in den handgemalten Streifen ein sich Stemmen gegen die verdichtete
Zeit im echten Leben. Der körperliche Einsatz ist den Streifen anzusehen, gerade so,
wie das Streifentuch am Boden sorgfältig arrangiert ist und keine Stofffalte dem Zufall
überlassen ist. Die Streifen und die stellenweise durch Stofffalten zueinander
verschobenen Streifen, lassen an optisch gewollte Effekte einer Bridget Riley denken.
Ein Hinweis darauf, dass sich Line Wasner zeitweise als Theatermalerin verdingt, lässt
vermuten, dass sie sich mit der Fernwirkung von Form, Formaten und Farben
auskennt. Doch die im Gegensatz zu Riley jede für sich lebendige einzelne
Streifenbahn, das malerische Moment sowie die Lust am überdimensionalen Format
jenseits der DIN-Formate führt im Zusammenhang mit der Theatermalerei zu einem
anderem Schlüssel, der Kulisse. Die Theaterkulisse ist reine Vortäuschung, vor der die
Schauspieler auf der Bühne präsent sind, darauf können Sie sich aber in diesem
Etablissement nicht verlassen, zumal Sie selbst Akteur sind. Es bleibt Ihnen nur genau
hinzuschauen und ab und an die Unsicherheit auszuhalten, ob nicht unter der ganzen
Leinwand weitere Gespenster verborgen sind.
Lieber Zeit, liebe Raum – bis in den Titel der Ausstellung verfolgt Line Wasner ihre
Arbeitsweise. Mit dieser freundschaftlichen Anrede ihrer beiden ständigen Gefährten
zitiert sie das in die Jahre gekommene Kommunikationsmedium Brief als ob die beiden
abwesend wären – Gespenster?! Die grammatikalische Verdrehung wirkt dabei wie ein
handgemalter Streifen: man muss zweimal hinschauen und stolpert trotzdem über die
Absicht. Zugleich beginnt sie mit der Anrede eine Erzählung, die sie hier in der Halle
mit bildkünstlerischen Mitteln fortsetzt. Das Vergnügen dieser Lektüre überlässt sie und
überlasse nun auch ich Ihnen.
Line Wasner//
06. 08. - 16. 08. 2015
Lieber Zeit, liebe Raum/
Dear Time, Dear Space
Ateliers im alten Schlachthof,
Sigmaringen